Klaus Eidenschink
Ideale. Segen oder Fluch?
IDEALE. SEGEN ODER FLUCH?
Dass Ideale eigentlich immer Ich-Ideale sind, weiß man in der Psychologie seit langem. Die eigene Person – genauer hier die eigene Identität oder Selbstwertregulation – ist im Eintreten für ideale Ziele immer mit im Spiel. ICH bin für das Neue, das Bessere, das Gute, die helle Seite der Macht, die Humanität, das Miteinander, das Gerechte, das Gesunde, den Frieden, die Freiheit – die Liste der Ideale, mit denen man sich identifizieren kann, ist endlos. Immer dann, wenn Ideale im eigenen Leben im Spiel sind, ist es besonders wichtig, ihre Funktion zu reflektieren. Sie können Orientierung stiften, sie können ein Leben in Knechtschaft bewirken, sie können Engagement stimulieren, sie können Kriege legitimieren, sie können Gemeinschaften bilden, sie können Ersatz-Identitäten stabilisieren – auch hier ist die Liste lang.
Warum schreibe ich das? Ich beobachte aller Orten, dass in der allgemeinen Aufregung um die bedrohte Welt(lage), die Komplexität der Zusammenhänge über Ideale aufgelöst wird. Das macht nämlich handlungsfähig, erlaubt klare Meinungen und eindeutige Gegner. Ich sehe allerdings vergleichsweise wenig, dass diese Ideale selbstkritisch reflektiert werden. Denn das droht obigen Nutzen einzuschränken: Die Handlungsfähigkeit würde verlangsamt, die Meinungen würden ambivalenter und der Gegner wäre möglicherweise in der eigenen Seele. Auch das hat also Nachteile, die man reflektieren kann, sonst wird Reflexion selbst zum Ideal.
Ideale haben keine Ende, sind unerreichbar, das ist ihr Wesen. Das macht ihren möglichen Segen und ihren denkbaren Fluch aus. Sie drohen den, der sie hat, zu unterwerfen, und das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass diese Menschen einen hohen Drang haben auch andere unter ihr Ideal zu unterwerfen. Darum – Reflexion könnte an einem sonnigen Sonntag eine gute Investition sein: Wer bin ich und was bleibt von mir, wenn ich meine Ideale mal wegdenke?
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