Leitprozess Gegenwartsbehandlung
Der Prozess des Organisierens (= Organisation) entscheidet auch über seine Form, indem er einerseits klare, verbindliche und allgemeine Regeln setzen muss und andererseits situativ und spezifisch den jeweiligen gegenwärtigen Umständen gerecht werden muss. Die Leitfrage, die eine Antwort sucht, ist: „Wird eine allgemeine Regel angewandt oder wird eine Ausnahme gemacht, welche besser zur gegenwärtigen Situation passt?“
Wäre eine Organisation nur regelkonform, würde sie sofort zusammenbrechen, da immer Situationen vorstellbar sind, in denen es falsch oder gar fatal wäre, die Regel zu beachten. Genausowenig kann immer nur situativ entschieden werden, da dies eine Organisation komplett überlasten oder ins Chaos stürzen würde (jeder generiert eigene Formulare, Einstellungsprozesse oder Bestellvorgänge). Regelbrechen ist demnach notwendig, damit Regeln hilfreich sein können! Und – Regeln müssen Ausnahmen begrenzen, damit sie ihre Gültigkeit bewahren.
Aus eben diesem Grund entwickelt sich ein Neben- und Ineinander von formaler (= durch Regeln beschriebener) Organisation und informeller (= vor Ort gelebter) Organisation. Letztere zeichnet sich nachgerade dadurch aus, dass Regelverletzungen, By-pass-Routinen, ‚Beziehungen‘, die Verbotenes möglich machen, ‚intelligente‘ Auslegung von Vorschriften, U-Boot-Projekte, indirekte Macht etc. einen flexiblen Umgang mit der Gegenwart ermöglichen.
Es kann letztlich keine Regeln (!) für die Mißachtung von Regeln oder die Notwendigkeit von Ausnahmen geben. Der Leitprozess Gegenwartsbehandlung besteht daher genau darin: Die Organisation entscheidet im Augenblick – mit Regeln im Hintergrund und Gewahrsein für den Moment.
Jürgen Große-Puppendahl
Sind „regel-orientierte“ Entscheidungen trivialer als „situations-orientierte“ Entscheidungen in Organisationen?
Vor dem hier dargestellten Theorieansatz „Metatheorie der Veränderung“ bestehen Organisationen aus Kommunikation, aus der Kommunikation von Entscheidungen in den sogenannten 23 Leitprozessen. Die Entscheidungen finden in polaren Spannungsfeldern statt.
Ein Beispiel: Leitprozess „Gegenwartsbehandlung“
Die Frage, die sich in diesem Leitprozess hinsichtlich der Entscheidung stellt, ist, handeln wir „regel-orientiert“ oder „situations-orientiert“ (=wird also eine Ausnahme von der Regelentscheidung gemacht). Auf den ersten Blick betrachtet erscheint die Entscheidung „regel-orientiert“ trivial und einfach für die Mitarbeiter in Organisationen, weil die Entscheidung „regel-orientiert“ entschieden 😉 häufiger in Organisationen getroffen wird und werden muss als ihr Gegenpol „situations-orientiert“. Doch trivial ist die Angelegenheit ganz und gar nicht. Denn in Kommunikation und damit auch in der Unternehmenskommunikation von Entscheidungen sprechen wir nach Luhmann von doppelter Kontingenz, eine Entscheidung könnte somit immer – entgegen den Regelerwartungen – auch anders getroffen werden. Somit sind Kontingenz und Emergenz wesentliche Merkmale der (Leit-)Prozesse des Organisierens.
Durch regel-orientierte und situations-orientierte Entscheidungen wird diese Komplexität der Kontingenz und Emergenz in den organisationalen Prozessen „eingefangen“.
Aber nur dann, wenn die anstehende Entscheidung bewusst reflektiert und entschieden wird … trivial ist das häufig nicht, oder?