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Alles Freunde?

Soziales Miteinander – im Kleinen (Familie) wie im Großen (Staaten) – wird oft mit der Zielvorstellung verbunden, es könnte möglich sein, dass alle Freunde sind oder jedenfalls freundlich miteinander umgehen. Nun gibt es auch im Kloster des Dalai Lamas, im Vatikan, bei „Fridays for future“, in ökologischen Projekten, in kooperativen Lebensgemeinschaften nicht nur Streit, sondern erbitterte Auseinandersetzungen, die auch auf der persönlichen Ebene ausgetragen werden. Selbst Jesus fand im Kreis seiner Jünger den Verräter. Wir sehen dies nicht als Defekt oder als Scheitern, sondern betrachten es nüchtern als Ausdruck davon, dass Konfliktsysteme überall auf der Welt ihre Funktion erfüllen.

Die Erwartung, dass alles Freunde werden, würde jedes soziale System beziehungsseitig „überintegrieren“. Das heißt, dass die Unterschiede zum Verschwinden kämen. Die „Artenvielfalt“, die viel beschworene Diversität, käme zum Erliegen. Je „gleicher“ die Binnenstruktur eines Systems ist, desto wirksamer können „Unterschiedsgewinnler“ ihre Chancen suchen und finden. Evolution nennt man dies. Wenn aber unter lauter Freunden plötzlich einer kommt, der einen Unterschied macht, der Geliebtes und Gewohntes in Frage stellt, dann kann er schnell zum Feind erklärt werden. Je mehr man sich liebt, desto größer ist das Enttäuschungspotential. Darum finden die meisten Morde – weltweit – in Familien statt. Unter Freunden lebt es sich am gefährlichsten.